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Impuls zum 14. März 2021

Zum 4. Fastensonntag

Von Ferdinand Kerstiens (Marl), pax christi Münster

Die Wahrheit tun
„Glauben heißt: Fest für wahr halten, was Gott geoffenbart hat.“ So haben es die Älteren von uns vielleicht noch vom Katechismus her im Kopf. „Gott ist wahrhaftig, weil er immer die Wahrheit sagt; er kann nicht irren und nicht lügen.“ So heißt es dort. Die Wahrheit sagen, die Wahrheit glauben: das ist also vornehmlich eine Sache des Willens und des Kopfes. Aber diese Wahrheit, diese Wahrheiten sind in alten Sprachen und Zeiten formuliert worden und sind deswegen oft heutigem Denken, heutigen Menschen fremd. Deswegen denken manche, sie würden nicht mehr glauben, weil sie diese alten Formulierungen so nicht ehrlich nachsprechen können.

Da fand ich zufällig in den letzten Tagen bei meiner „Fastenzeitlektüre“ einen Text von Madeleine Delbrêl: „Was wir glauben, interessiert die Leute, unter denen wir leben, meist nicht. Nicht über den Inhalt unseres Glaubens werden unsere Zeitgenossen uns unmittelbar ausfragen. Ihre dringenden, wenn auch meist stummen Fragen zielen auf etwas anderes: ‚Was bedeutet für euch überhaupt glauben?‘ Wir merken dann bald, dass wir das selber nicht so genau wissen. Wir kommen dann dahin: uns selbst die Frage zu stellen, die die anderen uns stellen: Wozu ist der Glaube gut? Und, falls wir der Frage nicht ausweichen, wenn wir uns ihr stellen, erkennen wir: Unmerklich war der Glaube für uns eine Denkart geworden, eine Lebensanschauung, eine Weise, unser Innenleben zu betrachten – aber wir haben uns seiner nicht bedient, um zu handeln, um etwas zu tun.“ 
(A. Schleinzer, Hrsg., Madeleine Delbrêl: Gott einen Ort sichern, Topos 734, S. 159)

Da sind wir genau beim heutigen Evangelium (Joh 3,14-21):
Jesus sprach zu Nikodemus: Wie Moses die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit jeder, der glaubt, in ihm ewiges Leben hat. Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird. Wer an ihn glaubt, wird nicht gerichtet; wer nicht glaubt, ist schon gerichtet, weil er nicht an den Namen des einzigen Sohnes Gottes geglaubt hat. Denn darin besteht das Gericht: Das Licht kam in die Welt, doch die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht; denn ihre Taten waren böse. Jeder, der Böses tut, hasst das Licht und kommt nicht zum Licht, damit seine Taten nicht aufgedeckt werden. Wer die Wahrheit tut, kommt zum Licht, damit offenbar wird, dass seine Taten in Gott vollbracht sind.

Da wird genau die Frage aufgegriffen, die für Madeleine Debrêl im Hintergrund aller Glaubensfragen steht: „Wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht.“ Die Wahrheit tun – damit kommt sogleich der ganze Mensch mit ins Spiel. Es reicht also nicht, bloß für wahr zu halten, was Gott geoffenbart hat. Glauben ist auch eine Sache des Kopfes und des Willens, aber seine Wahrheit muss mein Leben durchdringen und verwandeln. Das Glaubensbekenntnis, in der Messe gesprochen, ist nur die eine Seite, die andere ist das Glaubensbekenntnis, wie es in meinem Leben deutlich wird. Da kann es auch sein, dass ich mit meinem Leben dem widerspreche, was ich mit meinen Worten bekenne. Ja, wir werden alle bekennen müssen, dass wir mit unserem Leben hinter dem zurückbleiben, was wir glauben. Die Wahrheit tun, - das bleibt also ständig neuer Impuls, neuer Auftrag, neue Einladung an uns. Wenn wir die Wahrheit tun, können manche Fragen des Glaubens ruhig offen bleiben. 

So antwortet ja auch Jesus auf die Glaubensfrage des Johannes: „Geht und berichtet dem Johannes, was ihr hört und seht: Blinde sehen wieder, und Lahme gehen; Aussätzige werden rein, und Taube hören. Tote stehen auf, und den Armen wird das Evangelium verkündet.“ (Mt 11,4f) „Was ihr den Geringsten, meinen Schwestern und Brüdern tut, habt ihr mir getan.“ (Mt 25,40) Auch bei Jesus geht es nicht bloß darum, dass er die Wahrheit sagt und ich ihm deswegen glauben darf, was er sagt. „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ (Jo 14,6) Jesus ist die Wahrheit, er sagt sie nicht nur. Seine Wahrheit ist sein ganzes Leben, seine Worte vom Kommen des Gottesreiches, seine Zuwendung zu den Menschen, seine Heilungen, sein Kreuz und seine Auferstehung. Die Wahrheit seines Lebens ist im heutigen Evangelium in einem Wort zusammengefasst: „Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richte, sondern damit die Welt durch ihn gerettet werde.“ Die Wahrheit seines Lebens heißt Rettung.  

Die Menschen, die Jesus begegneten, haben etwas von seiner rettenden Kraft gespürt: Sein Wort vertrieb die bösen Geister, die den Menschen knechten. Die Begegnung mit ihm macht wieder frei zum Leben. Die Menschen atmeten auf. Die Gekrümmten und Gelähmten richteten sich auf. Die Ausgestoßenen fanden wieder in die menschliche Gemeinschaft zurück. Er aß mit den Zöllnern und Sündern. So wurde das Kommen des Gottesreiches für die Menschen erfahrbar.

Jetzt ahnen wir vielleicht, was es heißt: die Wahrheit tun. Die Wahrheit tun heißt retten, sich von Jesus anstecken lassen, wie er den Menschen zu begegnen. Wir sind immer schnell dabei, wenn es um die Verurteilung anderer geht. Ja, die Frommen die sich auf Gott berufen, sind besonders in der Gefahr, in ihren Urteilen, in ihren Verurteilungen hart und unnachgiebig zu sein. Wenn ich mich als einzelner oder als Kirche dabei auf Gott berufe, dann ist das auch gleichsam die letzte Instanz. Dann komme ich nicht mehr von meinem Urteil herunter, dann bin ich nicht mehr lernfähig. Dann richte ich statt zu retten.

Das gilt auch für die Kirche in ihrem Selbstanspruch und in ihrer Struktur. Die kirchliche Herrschaft über die „Wahrheit“ hat unendlich viele Opfer gefordert und fordert sie bis heute. Ich will gar nicht die ganze Geschichte bemühen, sondern nur davon sprechen, was ich selber erlebt habe: Viele Menschen erleben die Kirche immer wieder als Verurteilung ihres Lebens, die Schwulen und Lesben, die geschiedenen Wiederverheirateten, die Priester, die den Zölibat nicht mehr halten wollen oder können, die Ehepaare, die verantwortungsvolle Empfängnisverhütung praktizieren, Frauen, die von der Weihe ausgeschlossen sind, Jugendliche, die keine Hilfe erfahren für das Erleben ihrer Sexualität ... Viele erwarten deswegen für ihr Leben und die Bewältigung der Fragen und der Not nichts Hilfsreiches mehr von der Kirche, nichts, was sie rettet. Dazu kommt die Verurteilung von Theologen und Theologinnen, der Befreiungstheologie, einer menschenfreundlichen Sexualethik und, und, und … Viele Defizite, über die jetzt der Synodale Weg spricht, gehören hierhin, nicht nur die sexuellen Verbrechen an Kindern, Jugendlichen und Frauen unter dem Mantel der Hierarchie.

Wenn wir die Rettungsbotschaft Jesu für unser eigenes Leben hören dürfen, für das Leben der Menschen neben uns, für unsere Welt, dann sind wir selbst in diesen Rettungsdienst eingespannt, dann wird seine Frohe Botschaft für uns zugleich zur Einladung, seinen Weg mitzugehen, damit sie alle Menschen erreiche. Die Wahrheit tun, nicht richten, sondern das Leben retten, das führt ans Licht, uns selbst und die anderen neben uns, unsere Welt. Glauben heißt nicht bloß, für wahr halten, was Gott uns offenbart, sondern Glauben heißt: die Wahrheit tun, retten, nicht richten. Das gilt auch für das ganze Tun und Verhalten, für Struktur und Recht in der Kirche: retten, nicht richten. Wer diese Wahrheit tut, kommt ans Licht und wird selber zum Licht für andere.

Lied GL 481
Sonne der Gerechtigkeit „Schaffe Licht in dunkler Nacht!“

Gebet
Guter Gott,
wir Menschen sind ständig in Gefahr, 
uns ein fertiges Bild von anderen zu machen, 
über andere zu richten und sie festzunageln auf ihre Schuld.
Auch deine Kirche richtet über andere im Namen deiner „Wahrheit“.

Du bist der Einzige, der uns so sieht, wie wir sind,
der in Wahrheit über uns richten könnte.
Ausgerechnet du aber willst nicht richten sondern retten.

Hilf uns, dass wir diese Wahrheit für uns annehmen.
Hilf deiner Kirche, diese Wahrheit zu leben.
Dann können Menschen auch in unserem Leben dich finden.